Roland Schwerdtfeger, conlab Management Consultants, Düsseldorf
Download: WP Resilienz im Mode-Einzelhandel V 2.0
Corona und der Lockdown bereinigen den Markt, und die meisten (Nicht-LEH-) Unternehmen, die die Krise überstanden haben, gehen geschwächt aus dieser hervor. Die Unsicherheit bleibt, sie ist sogar größer geworden – ebenso wie die Gewissheit, dass mit dem Ende dieser Krise die Probleme keineswegs verschwinden werden. Im Gegenteil, nichts scheint mehr verlässlich, das Vertrauen in die Kontinuität vermeintlich stabiler Entwicklungen ist erschüttert. Kann die Wirtschaft jemals zu „normalen Zeiten“ zurückkehren, etwa zu verlässlichen Saisonrhythmen oder gesunden Renditen oder müssen sich Einzelhändler auch wirtschaftlich auf einen dauerhaften Klimawandel einstellen und sich für volatilere Zeiten rüsten? Hat Corona wirklich Grundlegendes verändert oder gab es die VUCA-Zeit doch schon vorher – haben sich lediglich Dramatik und Geschwindigkeit des Ausleseprozesses verändert?
Spätestens jetzt erkennen Händler, dass sie ihre Unternehmen auch für Krisenzeiten ohne Staatshilfen dynamikrobuster aufstellen müssen. Der Aufbau von Resilienz nach der Corona-Krise wird überlebensnotwendig. Dabei ist nicht entscheidend, ob die nächste Krise eine gesundheitliche, ökologische, digitale, kulturelle oder politische ist – wirtschaftliche Rückschläge werden sich wiederholen. Dauerhafte Stabilität wird es wohl nicht mehr geben. Unternehmen, die zukunftsfähig bleiben wollen, müssen sich spätestens jetzt neu erfinden.
Wahrscheinlich ist die Veränderungsfähigkeit von Organisationen der wichtigste Überlebens- und Wettbewerbsvorteil der Zukunft.
Gesundheitskrisen, politische und weltwirtschaftliche Instabilität und Ökologie lassen lineare Entwicklungen und Planungen kaum mehr zu, digitale Kommunikationstechnologien, künstliche Intelligenz und die Individualisierung der Kulturen verändern unsere Gesellschaft, generieren neue Arbeitsformen, verändern Normen, Lebensstile und Verhaltensmuster. Nichts scheint mehr sicher zu sein. Selbst Megatrends, die „Tiefenströmungen des Wandels“ (Matthias Horx) – eigentlich „Veränderungen, die uns schon lange prägen und auch noch lange prägen werden“ – sind heute nicht mehr verlässlich. Globalisierung, Urbanisierung, digitale Konnektivität, Individualisierung oder Mobilität – seit Corona scheinen sie keine Entwicklungskonstanten der globalen Gesellschaft mehr zu sein.
Die zunehmende Volatilität dieser Entwicklungen verändert auch die Rahmenbedingungen für das Agieren im Handel. Feste Strukturen und Prozesse, Hierarchien, starre Wareneingangs- und Abschriften-rhythmen, fixe Kostenblöcke und langfristige vertragliche Bindungen erweisen sich zunehmend als hinderlich, vielfach sogar als existenzgefährdend.
Wie bei allen tiefgreifenden Veränderungen wird es Gewinner und Verlierer geben.
Unternehmen, denen es gelingt, sich flexibler, agiler aufzustellen, ihre Kosten zu variabilisieren, konsequent Effizienzreserven zu heben, ihre Unternehmens- und Marketingstrategie immer wieder anzupassen und sich dynamisch zu organisieren, werden eher zu den Gewinnern gehören. Die, die dies das alles nicht tun, werden hingegen noch schneller vom Markt verschwinden.
Dies mag einerseits Ausdruck einer notwendigen, vielleicht sogar in einzelnen Marktsegmenten überfälligen Marktbereinigung sein. Die kontinuierlich sinkenden Flächenproduktivitäten im stationären Einzelhandel sind zwar primär eine Folge des zunehmenden Online-Handels, aber eben auch Ausdruck der Überdistribution verschiedener Handelsformate und der Erosion von Betriebsformen.
Andererseits haben es Händler weitgehend selbst in der Hand, ob sie am Ende zu den Gewinnern oder Verlierern der Veränderung gehören. Jetzt ist der Zeitpunkt, in dem alle Bausteine des Unternehmens – Strategie, Strukturen, Prozesse, Instrumente, Kompetenzen etc. überprüft werden müssen. Nichts ist unveränderlich.
Stellen Sie sich ein Unternehmen vor, das weitestgehend krisenfest aufgestellt ist und so flexibel reagieren kann, dass es zukünftige Turbulenzen sicher übersteht.
Während der Corona-Krise titelte die TW „Viele werden es schaffen – viele aber nicht.“ Die Krise hat leider sehr schnell zu einem weiteren Ladensterben geführt, zu zahlreichen Schutzschirmverfahren und Insolvenzen – und es ist zu vermuten, dass die Folgen der Krise weitere Unternehmen treffen werden. Wie aber hätte dieser Ausleseprozess im stationären Handel erst ausgesehen, wenn der Staat die Wirtschaft nicht massiv unterstützt hätte? Die Auswirkungen wären noch deutlich dramatischer gewesen. Starre, unbewegliche Geschäftsmodelle – erst recht, wenn die Betriebsformen tradiert sind – werden zukünftig noch viel stärker unter Druck geraten.
Die Situation zu beschreiben und Ursachen zu analysieren ist das Eine, konkrete praxisnahe Lösungen und ihre machbare Umsetzung sind das Andere.
Und was nun?
Mit welchen Maßnahmen können Handelsunternehmen sich für die Zukunft resilienter, widerstandsfähiger gegenüber äußeren Unwägbarkeiten aufstellen? Welche Veränderungen müssen sie vornehmen, welche Voraussetzungen müssen sie schaffen, um zukünftig krisenfester zu sein? Damit sind keineswegs nur eine solide Eigenkapitalausstattung und Kostenflexibilisierung gemeint, vielmehr muss das Unternehmenskonzept insgesamt auf den Prüfstand, müssen Strukturen, Prozesse und Instrumente bis hin zu Strategie und Unternehmenssteuerung überprüft und an zukünftige Herausforderungen angepasst werden – systematisch. Erst dann, wenn alle Elemente des Geschäftsmodells vor dem Hintergrund denkbarer kritischer Rahmenbedingungen überprüft und angepasst wurden, entsteht weitgehende Krisenresilienz. Damit werden Unternehmen zwar nicht völlig immun gegenüber existenziellen Risiken, die Widerstandsfähigkeit diesen gegenüber steigt aber signifikant. Letztlich geht es darum, besser aufgestellt zu sein als der Wettbewerb.
Alle Bausteine des Unternehmens müssen überprüft und soweit wie möglich an volatile, aber für einen Zeitraum definierte Rahmenbedingungen angepasst werden.
Beispiele für Handlungsfelder eines weitgehend krisenresilienten Unternehmens:
Strategie und Unternehmenssteuerung: Sind die Kernelemente der Positionierung im Markt auch vor dem Hintergrund eines veränderten Konsumentenverhaltens (z. B. Frequenzverluste, weiter zunehmende Online-Anteile) noch prägnant und richtig? Wurden digitale und virtuelle Werkzeuge auf allen Ebenen auf Relevanz überprüft? Inwieweit verändern sich rationale und emotionale Kundenerwartungen? Müssen Vorsprungsfaktoren gegenüber dem Wettbewerb angepasst, neu definiert und kommuniziert werden? Bildet das Berichtswesen diese Entwicklungen frühzeitig ab? Sind permanente Innovationen prozessual und strukturell verankert und institutionalisiert?
Sortiment und Einkauf: Einkaufsrhythmen und Limitaufteilung müssen überdacht und ggf. verändert werden. Spannen- und Konditionen-optimierung versus Retourenvereinbarungen sind neu zu bewerten. Damit bekommt das Merchandise Planning auch vor dem Hintergrund einer LUG- und Abverkaufsquoten-steigerung sowie Bestandssenkung höchste Priorität. Muss die Abschriftensteuerung noch stärker als in der Vergangenheit auf Modegrade und deren Abverkaufszyklen ausgerichtet werden? Für 70 bis 80% des Sortiments könnte die Steuerung der Preisreduzierungen in Zukunft besser durch BI-Lösungen und Big Data erfolgen, z. B. eingebettet in eigene CRM-Tools – und im Kontext der individuellen Geschäftsprozesse und Workflows. Führungskräfte und Mitarbeiter könnten sich dann stärker auf den Kunden konzentrieren.
Verkauf: Bei sinkenden Passantenfrequenzen sind systematische Steigerungen von Capture Rate, Conversion, Teilen pro Bon und Durchschnittspreis die einzigen Stellhebel zur Umsatzsteigerung. Die Einflussfaktoren hierauf sind hingegen vielfältig: Rennermanagement, Optimierung der Flächenleistungen, Verkaufsflächenstrukturierung, digitale Verkaufs-unterstützung, CRM und Loyalty Programme, Proximity Marketing, Optimierung der Kassenabläufe u. v. m.
Lokale Marktplätze galten bereits als überholt, vielleicht erleben sie aber gerade jetzt durch ein Zurück aus der Globalisierung ihr Comeback. einzelheld.de, kiezware.de, lokalkauf.org oder Lozuka in Siegen könnten dann zu Blaupausen werden. mystationary.de ermöglicht digitalisiertes Stöbern durch viele Concept Stores und Boutiquen. Content Commerce-Plattformen wie instyle.de, elle.de, cosmopolitan.de oder harpersbazaar.de erhöhen Sichtbarkeit und Reichweiten. Social Commerce – etwa über Instagram – ist eine weitere Alternative, um auch in Krisenzeiten sichtbar zu bleiben.
Marketing und Kommunikation: Die Customer Journey ist heute allein schon durch digitale Touchpoints ungleich komplexer geworden als früher. Viele Händler versuchen, möglichst an allen Kunden-Kontaktpunkten präsent zu sein – und erzielen damit überall nur mittelmäßige Awareness- und Imagewerte. Erfolgreicher und nachhaltiger ist eine Konzentration auf die für die eigene Kernzielgruppen wirklich relevanten Touchpoints – mit dem Ziel, dort Kommunikationsexzellenz zu erreichen.
Im Rahmen von Kartenprogrammen ist eine Erhöhung der Kundenbindung über innovativere und vor allem flexiblere Bindungsmechanismen wie Multipartner-Programme, Status-Card, Abonnements, Kundenclubs oder Boni möglich. Die hieraus generierten Kundendaten können vor allem in Verbindung mit Data Mining zu einer effizienteren Erreichung der Unternehmens- und Marketingziele genutzt werden.
Mitarbeiter, Führung: Wenn ein Kostenblock von rund 20% vom Bruttoumsatz zu 80% fix ist, werden selbst moderate Umsatzverluste schnell substanziell bedrohlich. Wie aber können Personalkosten angesichts von Fachkräftemangel, zunehmenden Qualifikations-Anforderungen und Imageverlusten des stationären Einzelhandels überhaupt variabilisiert werden? Wie müssen Motivations- und Anreizsysteme gestaltet werden, um Mitarbeiter/innen auch in Krisenzeiten an das Unternehmen zu binden? Müssen starre Hierarchien nicht mehr und mehr einer agilen Projektorganisation weichen? Sind Instrumente wie kollegiale Führung und Organisationsentwicklung – aus der Mitte der Unternehmung heraus – nicht viel besser geeignet, sich an Marktveränderungen anzupassen?
Es gibt genügend Beispiele für Unternehmen, die beweisen, dass es geht. Und strukturierte Instrumente, um Resilienz aufzubauen.
Geht man vom Status Quo im Unternehmen aus, so erscheinen viele Anpassungsmaßnahmen auf den ersten Blick als schwierig oder gar nicht umsetzbar. Standort, Mietbelastung oder Abschreibungen stellen sich zunächst als konstitutive Größen dar, die sich nicht verändern lassen. Der Aktionsradius scheint begrenzt. Hier kann eine Simulation in vielen Fällen helfen. Dabei werden potenzielle, zukünftig kritische Rahmenbedingungen definiert und deren Auswirkungen auf Umsatz, Rohertrag, Kosten, Prozesse etc. eingeschätzt. In einem Zero-Base-Ansatz wird nun ein fiktives Unternehmen auf diese (Worst Case-) Rahmenbedingungen hin geplant und gerechnet. Wichtig ist, hierbei alles in Frage stellen zu können und eben nicht von unveränderlichen Größen (wie z. B. Mindestmieten oder Verkaufsflächen) auszugehen.
Auf Basis eines ganzheitlichen Ansatzes lassen sich so all diejenigen Maßnahmen ableiten und in einem Kurz-, Mittel- und Langfrist-Zeitplan umsetzen, die notwendig sind, um zukünftige Krisen besser zu überstehen. Und so ist es eben doch möglich, Resilienz im Modehandel zu entwickeln.
Roland Schwerdtfeger
Der Autor ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung conlab, Düsseldorf. Der ehemalige Kaufhof-Manager und ANWR-CEO. Als Handelsexperte ist es spezialisiert auf Strategieentwicklung, Change-Management, Restrukturierung, Marketing und Vertrieb. Er arbeitete zuletzt u. a. für Konen, München und die Moses Gruppe.
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